Das Virus – Eine pandemische Kurzgeschichte

Das Aufkommen dieses neuen Virus, der Schweinegrippe, liess mich an eine alte Geschichte erinnern. Ich kramte sie hervor und schrieb sie mit einem neuen Gesicht neu – Das hätte ich wohl mit all meinen anderen Kurzgeschichten auch machen sollen, oder?
Meine pandemische Kurzgeschichte mit dem so passenden Namen das Virus dreht sich um einen Protagonisten, der eine Pandemie im eigenen Leben und vor allem an einer Bushaltestelle miterlebt.
Wer Lust dazu hat, darf ab hier weiterlesen 🙂

Das Virus

Allein. So stehe ich nun hier und frage mich, wie es soweit kommen konnte. Es ist ein normaler Sonntag, doch alles ist anders. Ich fahre jede Woche am selben Tag und zur selben Zeit mit dem Bus. Der Bus fährt zu einer Zeit die man als unchristlich bezeichnen könnte, würde man dieses Wort benutzen. Ich tue es nicht. Mit mir warten immer dieselben Personen. Drei Frauen und zwei Männer. Ich kenne ihre Namen nicht – obwohl ich mindestens einen kennen müsste. Aufgrund der Unkenntnis habe ich mir über die Zeit Bezeichnungen für sie ausgedacht. Die Alte, die Dürre, die Fette, der Blonde und Tank. Tank verdankt seinen Namen dem Fakt, dass er ständig und bei jeder Witterung ein Tank-Top trägt. Die Dürre scheint auf Tank zu stehen, ihn gar zu kennen. Ich vermutete die beiden einige Male ein Paar zu sein – Ich weiss natürlich nicht, ob dies so ist, aber die Vorstellung gefällt mir. Die Fette steht eindeutig auf den Blonden und hat ihm auch schon diverse Male eine Zigarette geliehen. Ich denke nicht, dass sie raucht – sie kauft die leichten Drogen nur für ihn. Er zeigt jedoch kein Interesse an ihr. Das liegt aber nicht, wie man zu vermuten versucht ist, an ihrem extrem voluminösen Auftreten. Nein, er ist schwul, was ich aus erster Hand bestätigen kann, mag aber natürlich jede Zigarette, welche man für ein wenig Smalltalk erhält. Heute gibt es aber weder den heissen Tank, noch das Geplänkel zwischen Fettie und Blondie zu bestaunen. Sie sind alle weg, vermutlich tot.

Die Alte war die erste, die sich seltsam verhielt. Sie war immer sehr freundlich – an einem Regentag fragte sie mich einst nach Münzen fürs Busticket und verwickelte mich in eines dieser Gespräche. Es handelte von ihren drei Katzen, die offenbar ihr ein und alles waren. Jilly, Petey und Käferchen. So oder ähnlich waren ihre witzlos lächerlichen Katzennamen. Zumindest beim Käferchen bin ich mir über den Namen sicher. Er oder sie war nämlich Krank und die alte hatte grosse Angst um das Tier. „Wissen sie, es hustet ständig.“ Sie wiederholte dies in einem wechselnden Kanon mit den Informationen, dass Käferchen das jüngste Kätzchen und ihr grösster Liebling ist. Sie war eine schrullige kleine Frau, irgendwie liebenswürdig aber auch seltsam. Eines normalen Sonntags vor einigen Wochen sah ich, vertieft in die Musik in meinen Ohren, wie sich etwas leicht ausserhalb meines toten Winkels ruckartig bewegte. Ich drehte meinen Kopf und sah, wie die Alte am Boden kniete – sie war wohl gestolpert – und wie die Dürre ihr auf die Beine half. Ich riss mich selbst aus der weichen musikalischen Umarmung Imogen‘s und drehte mich der Szenerie zu. Die Alte keuchte und hustete, ich vermutete sogar Bluttropfen zu sehen, die auf den Boden spritzten, doch ich bildete sie mir wohl nur ein. Mit meinen Kopfhörern wieder im Ohr, aber ohne Musik, lauschte ich dem Gespräch, das die Dürre danach im Bus mit Tank führte. „Die hat mich doch wirklich angehustet, glaubst du das?“, gab sie entrüstet von sich und erzählte weiter. Offenbar war Jilly, als letzte der drei Katzen, gestorben. Ich drehte mich um und erkannte den tiefen Schmerz in den Augen der Alten. Aber da war auch noch etwas anderes. Eine Furcht schien sich in ihren Augen breit zu machen. Ich vermutete, dass sie sich nun vor der leeren Wohnung fürchtete – Aber wahrscheinlich fürchtete sie sich vor etwas anderem. Es war das letzte Mal, dass wir sie sahen.
Neuigkeiten. Zeitung, Radio, Fernsehen. Alle berichteten. Da war wieder etwas neues. Wer oder was war diesmal schuld? Einst waren es die Kühe und Vögel, es folgten die Schweine, Tannen und gar Japaner. „Hast du von dieser neuen Seuche gehört?“, fragte mich einer lachend im Büro. Belustigt antwortete ich ihm. „Katzen-Aids?“ Er sah mich lächelnd an und erzählte mir davon. Man kenne das Virus schon lange, natürlich, aber jetzt sei es mutiert – „… und hat sich deshalb von irgend einem Zufalls-Opfer auf den Menschen übertragen, nicht wahr?“ Er bejahte lachend und meinte, dass ich mit Katzen-Aids gar nicht so falsch lag. Es war die Katzenseuche. Wir hatten das Thema abgeschlossen und ich hatte mich kaum dafür interessiert. Ich hatte ja auch die Killertannen überlebt. Aber ich hatte in dem Moment nicht an die Katzen der Alten gedacht, nicht daran gedacht, dass sie gehustet hatte.

Eine Woche später hat sich aber kaum einer mehr daran erinnert. Gut, wahrscheinlich war ich der einzige, der sich nicht mehr daran erinnerte. Auch nicht, als ich die Dürre in einer noch viel dürreren Variante sah und auch nicht, als sie sich todesbleich an Tank klammerte. Die Fette sprach die beiden offenbar an, aber dank meines musikalischen Schotts gepaart mit meinem Desinteresse an den schlampigen Problemen dieser Leute wusste ich nicht worum es ging. Wahrscheinlich fragte sie nach dem befinden. Nach dem Betreteten des Busses fiel die Dürre förmlich in den Sitz. Tank setzte sich neben sie und küsste sie auf die Wange. Ich fragte mich, ob er sie wohl noch ficken würde, wenn die so aussieht und meine innere Stimme meldete sich. Victoria hat auch nicht viel anders ausgesehen und wurde noch. Wie auch immer.
Eine Woche später fehlte die Fette und der Blonde schien auch etwas zu kränkeln. Eine Cousine von mir war an diesem Virus, dieser Seuche gestorben. Soll ja schnell gehen, hatte meine Mutter gehört, aber das überrascht mich bei der nicht. Natürlich überraschte sie es nicht, die Petra, meine Cousine, war sowas wie ein Viren-Magnet, wo immer sie war, was immer sie tat: Gab es eine Grippe oder ein anderes Virus, sie hatte es. Doch dieses Mal ging es wohl tiefer in‘s Auge. Das Cousinen-Intermezzo öffnete mir aber wenigstens die Augen. Das Virus schien also wirklich bedrohlich zu sein. Ich schaute den Blonden an und sah gerade Tank, ohne Tank aber mit einem Sweatshirt, schwer die Treppe erklimmen. Da wurde es mir auf einen Schlag klar. Die Alte, die Dürre… sie hatten beide dieses Virus, waren womöglich im Spital oder gar tot. Und auch Tank, ohne Tank… der musste es von der Dürren haben. Aber wie kommt der Blonde dazu? Einen kurzen Augenblick war ich verwirrt, es schien, die Welt bestünde nur aus dieser einsamen, schwach beleuchteten Bushaltestelle. Er hatte es sich natürlich sonstwo eingefangen. Es soll ja vorkommen, dass Menschen auch noch andere Menschen kennen. Ich hielt mich in dieser Busfahrt von ihnen entfernt. Sie setzten sich jedoch zueinander hin. Das war wahrscheinlich eine Art von Leidensgenossenschaft. Tank sprach von einer Frau, sie läge im Krankenhaus und es ginge ihr nicht gut. Er sprach wahrscheinlich von der Dürren. Ihm ginge es auch nicht gut, er würde wohl Morgen zum Arzt, wo der Blonde offenbar gerade Heute war.

Am Montag Mittag wurde die 500 Millionenmarke überschritten und ich entschied mich, keine Zeitung mehr zu lesen und kein Radio mehr zu lesen. Trotz Allem spürte ich die Tiefe der Katastrophe. Am Mittwoch waren wir noch vier Personen im Grossraumbüro und an diesem Nachmittag beschlossen die ersten, verrückt zu werden. Eingeschlagene Fensterscheiben und zertrümmerte Fahrräder säumten den Weg. Ich schien der Einzige ohne Schutzmaske zu sein. Soll es mich raffen, wird es mich raffen, was soll ich mich da mit unnützen Masken wehren? Ich sah die Angst in allen, die mich kreuzten. Sie hielten mich für einen der kranken, weil ich mich nicht schützte. Eine Sekunde blitzte die Geschichte in meinem Kopf auf. War ich womöglich Krank, aber immun und steckte alle anderen an? Vielleicht war ich die Typhus-Marie – oder in diesem Fall, die Katzenseuchen-Marie. Das klang so beschissen, dass ich den Gedanken wieder aufgab und zwar ohne Umschweife.

Tank kam nicht, aber Fettie war wieder da. Sie sah gut aus, verängstigt aber gut. Sie musterte Blondie und flüsterte ihm etwas in‘s Ohr. Er sah sie verdutzt an und wandte seinen Blick kurz zu mir. Es schien, als würde er mir eine Frage stellen wollen. Was wenn er es tat? Was wenn er mich beim Namen ansprach, ich seinen aber nicht kennen würde? Er tat es nicht, er sah zu ihr zurück und nickte. Sie umarmte ihn – ein schreckliches Bild. Nach schrecklichen fünfzehn Minuten Verspätung hielt der Bus bei uns. Wir betraten ihn, er war leer und der Busfahrer keuchte. Blondie und Fettie setzten sich nebeneinander und ich setzte mich in die hinterste Ecke des Busses. Der Bus fuhr los und Blondie küsste Fettie auf die Wange. Sie drehte sich ihm um und begannen sich zu küssen. An dieser Stelle wurde mir so übel, dass ich mich wegdrehen musste. Ich fragte mich, ob mich das Virus nun auch erreicht hatte, tat die Übelkeit jedoch als eine Reaktion auf Fetties und Blondies Geknutsche ab. Ich schaute aus dem Fenster und sinnierte, es schien alles ruhig und dunkel. Das war aber falsch, auch zu dieser Zeit war es immer hell an diesen Strassen. Die Laternen wurden wohl zerstört und die Häuser werden unbewohnt gewesen sein. Unbewohnt, das von diesen Stadtteil zu sagen, klang so falsch, gar lächerlich, aber was wahrscheinlich so.

Das war letzte Woche. Meine Mutter starb. Nun, sie war alt. Achtundachtzig Jahre und es war zum Glück nicht das Virus gewesen. Jetzt sitze ich hier, alleine auf einer Bank. Ich weiss nicht, wie viele Kranke Heute schon darauf sassen. Es interessiert mich aber auch nur wenig, soll es doch kommen, dieses Virus. Wie ich schon sagte: Wenn es mich raffen soll, wird es mich raffen. Und im Moment wünschte ich mir, es hätte mich gerafft. Der Bus ist schon mehr als dreissig Minuten zu spät. Unweit von meiner Bank explodiert etwas. Ein heller, roter Blitz rast an mir vorbei und ich frage mich kurz, ob nun die Welt doch noch in sich zusammenbricht. Aber das tut sie nicht, es war wahrscheinlich nur ein Auto oder irgend etwas anderes, das eigentlich nicht explodieren sollte. Ich bleibe ruhig auf der Bank sitzen und warte. Worauf ich warte, ist mir nicht klar – Der Bus wird wohl nicht mehr kommen. Ein leichter Windzug kommt auf und etwas wird an meine Füsse geblasen. Ich schaue nach unten und erkenne eine aktuelle Tageszeitung. Ich greife mit den Händen danach um sie von meinen Beinen zu lösen. Sie lässt sich leicht lösen und treibt im sanften Nachtwind weiter und ich werfe einen kurzen Blick auf die Titelzeile. Ich stehe auf, drehe mich nach der Zeitung um und folge ihr mit meinen Augen. Sie verschwindet im Dunkel, ich drehe mich um und laufe gegen den Wind los. Entwarnung. Dies stand in grossen Lettern auf der Zeitung – gefolgt von einem Fragezeichen.

– Ende –

Danke für’s Lesen! Wie fandet ihr’s?

Greeez und gute Gesundheit – pf


Kommentare

5 Antworten zu „Das Virus – Eine pandemische Kurzgeschichte“

  1. Atmosphärisch, einiges zwischen den Zeilen erzählt, jemandem zum Gegenlesen geben wäre keine schlechte Idee gewesen, *mag*

  2. Dankeee Diir – dass jedes meiner Worte eigentlich gegengelesen werden sollte weiss ich bereits, das liegt in der Natur der pfoffschen Literatur 🙂 hihi
    Hab grad vorher im fb zu nem kumpel gesagt, dass meine Stärke eher das Konzept als schönes Hochdeutsch ist … so werd ich nie zum gefeierten Author, aber wer will das schon? 😉
    greez und dankeee fürs feeedbaaack 🙂

  3. […] oder was-auch-immer) kennt, wird das mit Sicherheit wissen. Gerade eben habe ich ja auch eine Kurzgeschichte auf diesem Blog veröffentlicht. Daran sieht man auch gleich die Qualität meiner Schreiberei. Nun, im Moment […]

  4. […] einem solchen Egokommentar etwas herausschleicht und ein eigenleben beginnt. So sind zum Beispiel die pandemische Kurzgeschichte und Eine Minute […]

  5. […] der Namenlose aus «Eine Minute». Ah, zwei habe ich noch vergessen: Den Namenlosen von der Virus-Geschichte und den ebenfalls Namenlosen mit der Larve. Ach, daraus könnte man sicher auch viele […]

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