«John Langdon war es» – ein Islandkurzkrími

Wenn man sich mit seinem Ehemann allein in der Einsamkeit Mordszenarien ausdenkt. Ich habe weder Ahnung von Polizeiarbeit, noch von Motiven oder Isländern. Aber ich habe etwa eine Stunde lang über isländische Namen recherchiert. #ResearchGoals #WennManAlsAutorWeissWasWichtigIst. Viel Spass!

John Langdon war es

Jón muss los. Am Sonntagmorgen, um 11 Uhr. Der Anruf kam gerade eben und seine Familie freut sich gar nicht. Es ist der 10. Geburtstag von Blær, aber Jón ist auch Polizist und sein Spezialgebiet ungeklärte Todesfälle. «Morde», wie seine Frau Geirný ihn gern erinnert, «es sind immer Morde». Mit derartigen Todesfällen kommen sie weit im Norden nicht klar. Wenn da Mal was passiert, wird halt Jón gerufen. «Da passiert nie was, hast du gesagt», waren Geirnýs vorletzte Worte an ihn, welche ihn nun auf seiner dreistündigen Autofahrt nach Hafnardalur verfolgen. 

«Da passiert auch nie was!», brummt er ins leere Privatfahrzeug. Wenn in den Westfjorden jemand stirbt, ist das niemals unerklärbar. Vom Wein ins Wasser, vom Eis auf den Stein. Ein paar kreative Selbstmorde. Soweit zu den Einheimischen. Meistens aber trifft es bescheuerte Touristen, die das Wetter und die Natur unterschätzen. Und auch in diesem Fall ist es genau das: ein erfrorener Tourist. 

Jón ist wütend und die lange Fahrt über Hügel und Höhen lässt diese Wut nur noch tiefer brauen. Stúlka hatte ihn angerufen, Gerichtsmedizinerin aus den USA, seit drei Jahren in Ísafjörður. Jón kennt sie seit mehr als 10 Jahren und schätzt sie und ihre Arbeit eigentlich sehr. Weshalb sie ihn hier ruft, ist für ihn ein Rätsel. «Etwas stimmt hier einfach nicht», hatte sie verschwörerisch gesagt und darauf gepocht er müsse jetzt unbedingt kommen. 

14:30, Jón erreicht den Tatort. Die gefrorene Leiche eines Mannes klebt auf der Veranda, keine Absperrungen oder so. Wahrscheinlich haben die hier sowas gar nicht. Zwei Polizisten stehen aber absperrend daneben, Stúlka spricht beim Eingang um die Ecke mit einer Frau. Sie winkt Jón zu ihnen. «Stúlka!» Er versucht so gelassen wie möglich zu klingen. Sie sagt etwas zur Frau, welche sich auch nach Jón umdreht und geht dann auf ihn zu. Die Frau hätte Stúlkas Schwester sein können. Braune haare, leicht gelockt, dunkler Teint. Doch für Jón sehen diese Südländer eh alle gleich aus. Einzig die strahlend blauen Augen unterscheiden sie für Jón von Stúlka. 

«Ich bin jetzt seit 14 Jahren eingebürgert und seit diesem Mai gibt’s meinen Namen hier sogar offiziell, du kannst mich also nun …» – «weiterhin Stúlka nennen.», fällt Jón ihr ins Wort, «ich freue mich auch dich zu sehen, worum geht’s?» Der Erfrorene heisst Duncan Pharpoup und die blauäugige Schönheit ist seine Frau Harriet. Er ein exzentrischer Autor aus Malta, sie ein britischer Promi aus Dokusoaps und Bigbrothers. Stúlka kennt beide nicht, hat diese Informationen bloss von Harriet erfahren. Jón denkt, schon von Harriet gehört zu haben. Schliesslich liebt Geirný internationales Trash-TV.

Laut Harriet war Duncan ein grosser Island-Fan und liebte insbesondere Nordlichter. Er hatte sich Wecker für die Besten Beobachtungsmomente gestellt. Schon die letzten Nächte sei er mitten in der Nacht nackt und nur mit seiner Kamera bestückt auf der Veranda herumgewandert und habe Aurorae fotografiert. Wahrscheinlich habe dann in der letzten Nacht der Wind die Tür zugeschlagen und Duncan so ausgesperrt. Soweit Stúlkas Zusammenfassung. «Bescheuerter Tourist kommt nicht mit dem Wetter klar. Fall gelöst, oder?» Natürlich gibt Stúlka ihm recht, doch wie schon am Telefon wiederholt sie: «Irgendetwas stimmt nicht» sie zieht Jón näher zu sich und flüstert, obwohl Harriet wohl kein Wort Isländisch versteht: «Die Türen verschliessen sich nicht selbst.»

Jón überzeugt das nicht. Exzentrischer nackter Künstler auf der Veranda, dummes Sternchen im Haus. Er kann sich richtig vorstellen, wie beide unfähig waren, die Tür zu öffnen. Sie heulend drinnen, er frierend draussen. Womöglich hatte er auch einen Kälteschock, Herzinfarkt oder Hirnschlag, während er draussen stand. Oder aber er dachte er könne draussen in der Kälte nackt übernachten. «Es ist ja gar nicht so kalt», könnten seine letzten Gedanken gewesen sein. Fünf einfache Lösungen für dieses Rätsel schon bevor er einen ersten Schritt auf die Holztreppe vor dem Haus gemacht hat. Dennoch: er ist nun hier und wird hier auch übernachten müssen, da kann er sich die Sache auch genauer anschauen.

«Die Türen sperren nicht automatisch ab, wenn sie geschlossen werden», sagt er zu Harriet direkt und ohne sich vorzustellen in einem schlechten englischen Akzent, den er sich für Touristen angeeignet hat. Harriet schaut ihn erschrocken aber gefasst an. Ihr Gesicht noch rot vom Weinen, die blauen Augen darin leuchten starr. «Womöglich hat er gar nicht versucht, die Tür zu öffnen. Unsere Türen sind alle automatisch abgeschlossen, wenn sie hinter uns zufallen.» – «und sie haben nichts gemerkt?» – «Nein, das habe ich bereits Alex erzählt.» Jón weiss nicht, wer Alex ist, wahrscheinlich einer der beiden Polizisten auf der Veranda. Eigentlich ist es ja auch egal.

Kommentarlos geht er auf der Veranda um das Haus herum. Er möchte die Umgebung sehen, bevor er sich die Leiche anschaut. «Der hat sich ja selbst konserviert», denkt er und zwingt sich eine ernste Miene auf, obwohl er seinen eigenen Humor über alles liebt. In der Nacht gab‘s Raureif, gewisse Spuren davon sieht Jón noch, obwohl der Reif beinahe komplett weg ist. Wahrscheinlich Fussabdrücke. Aber die können alles bedeuten, schliesslich war der gute Herr ja auf Aurorajagd, und die können ja an jeder Ecke erscheinen. An zwei Stellen sind die Abdrücke auffälliger. Hier war er also länger. Aber auch das ist ein Hinweis auf nichts. Hinter einer Stelle ist etwas ins Holz geritzt: «John Langdon var Þad» Wie lange das aber dort schon steht, weiss ja auch niemand. Das Isländisch dieser Nachricht ist komplett falsch. Jón denkt, dass sich wohl ein Tourist verewigen wollte. John dachte er schreibe «John Langdon war da», schrieb aber eher «John Langdon war es».

Bei der Leiche angekommen begrüsst Jón die beiden Polizisten. Erst jetzt erkennt er, dass er einen davon kennt: Þorkell und Jón haben in Reykjavík zusammen gearbeitet vor einigen Jahren. Der andere, Ígor, scheint auch ganz nett, wenn auch wie Stúlka kein Isländer, zu sein. Die beiden haben nicht mehr über den Eiskünstler zu berichten. Ígor war als erstes hier, fand nichts auffälliges und holte Stúlka fürs Einsacken der Leiche. Beide verstehen ebenfalls nicht, warum Stúlka so ein Aufhebens macht. Die Leiche liegt beinahe unauffällig da: Auf der Seite, zusammengezogen wie ein Fötus. Typisch für Leute, die versuchen, nicht zu erfrieren. Die Augen geschlossen; das Gesicht gefangen für immer im Ausdruck schlotternd Sterbenden. Einzig der untere Arm ist seltsam: er ist ausgestreckt und die Hand nicht zur Faust geballt, wie man‘s erwarten würde. Der Zeigefinger ist leicht gekrümmt aber fast ausgestreckt. «Beinahe so, als würde er auf etwas zeigen wollen», meint Ígor. «Doch er zeigt auf nichts, wenn überhaupt hinter das Haus, aber dort ist nichts», fügt Þorkell hinzu. Jón verdreht die Augen. «Womöglich kam Stúlkas imaginärer Mörder aus dieser Richtung?» Gemeinschaftlich versuchen sie, zu lautes Lachen zu unterdrücken.

Es deutet also alles auf die Variante «es ist gar nicht so kalt, ich schlafe auf der Veranda» hin. Doch die Handposition und die auffälligen Stellen im Reif um das Haus machen ihn stutzig. Insbesondere weil der halb ausgestreckte Zeigefinger auch als «um das Haus herum» interpretiert werden kann. Jón entscheidet, die beiden Fussabdrücke nochmal genauer anzuschauen. Inzwischen sind sie komplett verschwunden. Die eine mit der Nachricht ist klar, die andere weiss Jón nicht mehr so genau. Am ehesten war sie aber wohl direkt neben dem grössten Fenster des Hauses. Auf diesem findet er schliesslich auf menschliche Abdrücke. Es ist nicht genau erkennbar, ob es Fäuste, Hände, Schultern sind. Aber es kann schon sehr gut sein, dass Duncan versuchte, das Fenster einzuschlagen.

Ein weiteres Fahrzeug fährt auf den Rasen vor dem Haus. Es ist eine Eskorte für die Frau des Toten. Stúlka erwähnte zuvor, dass Harriet im Hotel am gegenüberliegenden Fjordufer untergebracht würde, bevor sie Morgenabend zurückflöge. Jón brennt aber jetzt noch eine Frage auf der Zunge. Er muss Harriet abfangen, bevor sie in den Wagen steigt: «Harriet!», ruft er, als sie schon fast beim Auto ist, «Wir gehen inzwischen davon aus, dass ihr Mann versucht hat, ein Fenster einzuschlagen. Haben sie davon nichts mitgekriegt?» Jón sieht Stúlkars bestätigenden Gesichtsausdruck. Es nervt ihn, dass sie denkt, er glaube nun auch an einen Mord. Es ist eine simple, ungeklärte Frage. Womöglich hat sie eine gute Antwort darauf. Zum Beispiel schläft sie vermutlich nur mit – «Schlafmittel», beendet Harriet seinen Gedanken laut. «Ich nehme Schlafmittel. Denken sie, ich hätte ihn retten können, nähme ich keine Schlafmittel?» Sie wartet seine Reaktion nicht ab, beginnt laut zu schluchzen und steigt schnell ins Auto.

«Was haben wir?», fragt ihn Stúlka vierzig Minuten später im Hotelfoyer. «Einen tragischen Unfall und eine sinnlose Hotelrechnung fürs Morddezernat.» Eigentlich möchte Jón ins Zimmer und sich entspannen. Die Fahrt wahr anstrengend, der Fall keiner, es ist Sonntag und er verpasst den Geburtstag seiner Tochter für nichts. Doch Stúlka insistiert, weiter darüber diskutieren zu müssen. «Was sind unsere Indizien?» – «Nichts Auffälliges.» – «Ausser diese Nachricht über John Langdon.» Jón erklärt Stúlka seine Theorie. Stúlka hatte aber bereits mit dem Vermieter geklärt, dass es nie einen Besucher mit diesem Namen gegeben hat. «Das hat auch keine Signifikanz», sagt Jón schliesslich, steht auf und geht in sein Zimmer. 

Doch die Sache lässt ihn nicht los. Im Bett googlet er die Namen der Involvierten. Tatsächlich: Ein exzentrischer aber erfolgreicher Autor und ein bescheuertes aber schönes Mädchen. Er schreibt bestseller Krimis und veröffentlicht Kurzgeschichten auf seinem Blog. Vor einem Monat zum Beispiel eine Geschichte mit dem Titel «Mjord». Gemessen an der Anzahl und Qualität der TV-Formate an welchen Harriet teilnahm, war sie vor der Hochzeit mit Duncan wohl bankrott. Lange sind sie zwar noch nicht verheiratet, aber machten öffentlich immer einen zufriedenen Eindruck. In einem Interview vor einem Jahr fragte man sie über das neue Buch ihres Mannes aus. Sie erwähnte, dass sie sich nicht für seine Kunst interessiere. Eine Sackgasse also; mehr als unterhaltsames Trivia und Einblick in ein Leben das Jón niemals haben wird, geschweige denn haben möchte, bietet diese Suche nicht. Auch die Suche nach John Langdon bietet nicht viel. Es gibt eine bekannte Persönlichkeit: Ein grafischer Künstler, der vor allem für seine Ambigramme in einem Buch von Dan Brown bekannt ist. Jóns Frau mag diese Bücher. Jón liest nicht. Anscheinend wurde der Protagonist in jenem Buch nach diesem John Langdon benannt. Eine lose Verbindung zu einem anderen, aber gar nicht exzentrischen Autor also. Erneut allerhöchstens interessantes Trivia. 

22:42, Jón kann nicht schlafen. Zu viel geht ihm durch den Kopf. Kaum etwas hat mit diesem «Fall» zu tun. Schliesslich entscheidet er sich, noch etwas in die Lobby zu gehen. Dort trifft er auf Harriet. «Dass sie nicht schlafen können, kann ich mir vorstellen» – «Ich sehe von meinem Zimmer aus direkt auf das Haus. Da hilft auch keiner ihrer schrecklichen Brennschnäpse.» Jón findet diese Frau unglaublich unsympathisch, wie jeden Touristen. Doch die Ironie der Zimmeraussicht und ihre Tragödie an sich lassen ihn nicht kalt. Er setzt sich zu ihr und beginnt leichten Smalltalk mit ihr zu führen. Erklärt sein Mitleid und Brennivín. Sie erzählt ihrerseits vor allem von sich und wie toll sie ihren Mann fand, wie sehr sie seine Geschichten liebte. Jón fragt, ob Duncan hier an einem neuen Buch habe arbeiten wollen. «Nein, er wollte hier vor allem endlich abschalten und das tun, was alle Autoren am liebsten machen.» – «Und das wäre?» – «Lesen. Doch er hat nicht Mal sein erstes Buch Da Vinci irgendwas von Dan Brown beenden können. Ich glaube er ist grad Mal über das Erste Kapitel hinweg gekommen.» – Jón nickt unauffällig, murmelt in Gedanken was von «schade» oder so. «Ach, so schade ist das wohl nicht», meint sie nachdenklich, «Er kannte den Film schon; in- und auswendig»

Mitternacht. Jón hatte sich beim Gespräch mit Harriet natürlich nichts anmerken lassen. Bald täuschte er aber doch Müdigkeit vor und ging in sein Zimmer. Sofort rief er Geirný an und liess sich den Da Vinci Code zusammenfassen. Jetzt hat er die Lösung aber kann sie nicht beweisen. Im Da Vinci Code schreibt ein ermordeter Mann, Robert Langdon mit seiner letzten Kraft auf den Boden. Die Polizei hält daraufhin Langdon für den Mörder, da man als Opfer im Normalfall den Namen seines Mörders aufzuschreiben versucht. Wenn Harriet Duncan zum Sterben ausgesperrt hat, konnte er natürlich nicht Harriet schreiben, weil sie das gemerkt und weggekratzt hätte. So hoffte er wohl, jemand würde es lesen und verstehen. Warum er aber John und nicht Robert geschrieben hat, bleibt Jón ein Rätsel.

Am Ende bleibt auch Google hier sein Freund. Leicht verzweifelt sucht er die Worte Robert, John, Langdon und Mord. Der erste Treffer: Mjord. Jón entscheidet, doch zu lesen. Ein Schwules Eherpaar macht Ferien in Viðareiði. John und Robert Jensson. John ist reich, Robert ein Erbschleicher. Robert vergiftet John und als dieser das merkt, inszeniert er die Anfangsszene aus Da Vinci Code um auf Robert hinzuweisen. In Duncans Kurzgeschichte funktioniert das nicht. In Duncans Realität aber schon und seine Frau wird über- und abgeführt. Danke Alex.


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