Ich ändere meine Meinung (wie) im Zug

Das ist kein Schreibfehler. Wirklich. Nein, ich meinte nicht im Flug, sondern im Zug und zwar wortwörtlich. 

Viele Bekannte halten mich ja für die Persistenz in Person. Aus diversen Gründen. Zum Beispiel weil ich meine Meinung immer sehr strikt und direkt kund gebe. Oder weil meine Ansichten sehr gefestigt scheinen. Weil ich meistens ein starkes Argumentarium vorweisen kann und sehr schwer von einer anderen Ansicht zu überzeugen bin. Dieser schein trügt aber. Meine Meinungen und Ansichten scheinen nur so festgefahren, weil mein Gehirn (wie jedes) grundsätzlich davon ausgeht, dass es recht hat. Und mein Argumentarium ist nur so stark, weil ich ungefähr eine halbe Minute länger google als andere.

Aus meiner Sicht sieht das nämlich ganz anders aus. Ich bin mit Abstand die labilste Person die ich kenne. Die meisten Menschen haben Meinungen/Ansichten/Argumente und stehen dazu. Wenn man sie in Frage stellt, werden sie eher wütend und versuchen gar nicht erst sie zu verteidigen. Sie stellen das Generalargument «man darf doch eine eigene Meinung haben» immer vorne an. Dies verwende ich zwar auch, aber nur wenn es um geschmackliche Vorlieben geht. Ic lasse mich schon von nur einem einzigen guten Argument überzeugen, dass ich falsch liege. Wahrscheinlich ist es irgendein Wissenschaftler-Gen, das ich in mir trage. Wenn bei einer Theorie nur eine einzige Gleichung nicht funktioniert – und möge sie noch so unwichtig sein – ist die gesamte Theorie falsch. Und so bin ich auch. Wenn man nur ein einziges Argument anbringen kann, das meine Ansicht wirklich in Frage stellt, werde ich von ihr zurücktreten.

Das traurige Problem ist, dass so gut wie nie jemand ein solches Argument auf Lager hat. Meine Umgebung interpretiert diesen Fakt als «René hat halt einfach immer recht. Das ist total nervig. Der ist so eingebildet. Alles was ihn interessiert ist recht zu haben.» Aber das stimmt wirklich nicht, ich möchte nicht recht haben. Am liebsten habe ich sogar unrecht und erlebe das Gefühl etwas neues zu lernen, zu erkennen. Jaja, ich bin seltsam, ich weiss und wahrscheinlich glaubt ihr mir auch nicht. Aber genau deshalb schreibe ich diesen Beitrag. Ich kann es nämlich mit einer Anekdote beweisen, die gerade letztes Wochenende passiert ist:

faktlondon

Wir waren in London und mein Grossbritannienfanboyehemann (♥︎) sagte an jeder Ecke, dass er doch sooooo sososooooo soooo sooooo gerne in London leben würde. Jedes Mal konnte ich nur eine «ach was»-Miene aufsetzen und sowas wie «London ist doch auch nichts anderes als Zürich» sagen. Das hörte er natürlich gar nicht gerne und versuchte mich immer wieder zu überzeugen. «Aber das da ist doch so schön» oder «man kann hier dies und das essen» oder «dies sieht doch so speziell aus». Nichts überzeugte mich. Schöne Dinge haben wir hier auch, gutes Essen auch, Spezielles auch. Doch dann trafen wir unsere Freunde, mit denen wir ein bisschen U-Bahn fuhren. Wir sagten Ihnen, dass wir zuvor noch unsere Oyster Card aufladen mussten. Einer von ihnen fragte mich dann, ob wir keine «kontaktlose» Kreditkarte hätten. Mein Mund stand weit offen. Mir war natürlich klar, was die Frage bedeutete, aber ich wollte es nicht wahrhaben und fragte ein Dutzend mal nach. Aber doch: Neuerdings kann man beim Betreten der Station einfach seine Kreditkarte ans Terminal halten und wird registriert. Beim Verlassen dasselbe und einmal im Tag wird der verbrauchte Betrag belastet. Das war nicht nur unglaublich fortschrittlich, nein es kam auch total unerwartet.

Das war das erste Mal während unseres Londonaufenthalts, dass ich mich wirklich wie in den Ferien fühlte. Das war so genial, so einfach … und plötzlich wollte auch der andere Herr Jossen (also ich) in London leben. Nur wegen dieser einen Sache – die in der Schweiz dank GA sogar einfacher ist. Natürlich nutzte sich dieses Gefühl ziemlich schnell wieder ab. Aber das Gefühl von Ferien und «dieser Ort ist mega toll» blieb. Ein einziger, für die meisten Menschen wohl unbedeutender Fakt hat meine ganze London Erfahrung komplett umgekrempelt. Da soll noch einer sagen, meine Meinungen und Ansichten seien beständig.

Man könnte nun erwarten, dass meine Glaubwürdigkeit unter solch einem Geständnis leiden würde. Der Gedanke ging mir tatsächlich auch durch den Kopf. Aber wie jedes Mal, wenn ich die Wahrheit sage, bin ich fest davon überzeugt, dass es meine Glaubwürdigkeit sogar noch stärkt.

Adjö, pfoffie


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